Mach den Deckel drauf

In der Toilette des La Guardia Airports fiel mir ein Mann auf, der sein Mobiltelefon aus der Jackentasche nahm, in eine freie Kabine ging und eine Nummer wählte. Ich nahm an, er wollte gleichzeitig pinkeln und telefonieren, aber dann sah ich unter dem Türspalt seine heruntergelassene Hose. Er saß auf der Schüssel.

Die meisten Flughafengespräche beginnen mit geografischen Angaben. »Ich bin in Kansas City«, sagt man zum Beispiel. »Ich bin in Houston.« »Ich bin am Kennedy Airport.« Der Mann mit dem Mobiltelefon sagte auf die Frage nach seinem augenblicklichen Aufenthalt nur: »Ich bin am Flughafen, was glaubst du denn?«

Die Geräusche einer öffentlichen Toilette sind nicht unbedingt das, was man mit einem Flughafen in Verbindung bringt, jedenfalls nicht mit einem sicheren Flughafen, sodass mir die Bemerkung »Was glaubst du denn?« unfair vorkam. Die Person am anderen Ende dachte offenbar genauso. »Was soll das heißen, ›Welcher Flughafen?‹«, sagte der Mann. »Ich bin in La Guardia. Und jetzt gib mir bitte Marty.«

Kurz darauf war ich in Boston. Meine Schwester Tiffany holte mich in der Lobby meines Hotels ab und schlug vor, den Rest des Nachmittags bei ihr zu verbringen. Der Portier winkte ein Taxi, und als wir eingestiegen waren, erzählte ich ihr die Geschichte von dem Mann in La Guardia. »Stell dir vor, der hat telefoniert und dabei auf dem Klo gesessen!«

Tiffany nimmt es sehr genau mit Regeln, ist aber ausgesprochen nachsichtig, wenn es um Kapitalverbrechen geht: Vergewaltigung, Mord, Kinderverwahrlosung – alles das muss im Einzelfall betrachtet werden. Wirklich ärgern kann sie sich über die kleinen Dinge, und ihr harsches Urteil beginnt meist mit »kein normaler Mensch«. »Kein normaler Mensch bastelt Gegenstände aus Kiefernzapfen«, heißt es dann, oder: »Kein normaler Mensch sagt Würstel zu einem Hot Dog. Das ist weder lustig noch originell. Das macht man einfach nicht.«

Ich war davon ausgegangen, Tiffany würde sich über die Geschichte von dem Mann auf der Toilette einigermaßen entsetzt zeigen. Ich hatte ein klares Urteil erwartet, doch stattdessen sagte sie nur: »Ich glaube nicht an Mobiltelefone.«

»Aber du glaubst daran, dass man Gespräche von der Toilette aus führen kann?«

»Was heißt glauben«, sagte sie. »Aber von mir aus, warum nicht?«

Ich dachte wieder an die Toilette in La Guardia. »Aber meinst du nicht, die Leute hören, was los ist? Wie willst du die Hintergrundgeräusche erklären?«

Meine Schwester tat so, als hätte sie einen Telefonhörer in der Hand Dann verzog sie das Gesicht und sprach mit gequälter, abgehackter Stimme, die man gemeinhin mit schweren Lasten verbindet. »Ich sage einfach: ›Wundere dich nicht. Ich kriege nur gerade diesen ... verdammten ... Deckel ... nicht ab.‹«

Tiffany lehnte sich in ihren Sitz zurück, und ich musste an die vielen Male denken, als ich auf diesen Satz hereingefallen war und mir vorgestellt hatte, wie sie hilflos in der Küche stand. »Versuch mal, den Deckel gegen die Küchenplatte zu schlagen«, sagte ich oder: »Halte das Glas unter heißes Wasser; das klappt manchmal.«

Nach langem, zähen Ringen kam dann endlich ein erleichtertes Aufatmen: »Na also ... ich hab’s geschafft.« Danach bedankte sie sich bei mir, und ich fühlte mich stark, weil ich mich für den einzigen Mann auf Erden hielt, der übers Telefon ein Glas aufschrauben konnte. An meine Eitelkeit zu appellieren war ein alter Trick, aber es steckte noch mehr dahinter.

Tiffany ist eine ausgezeichnete Köchin. Bequemlichkeit ist nicht ihre Sache, und deshalb vermutete ich in dem Glas immer etwas, das sie selbst eingemacht hatte. Gelee vielleicht oder Pfirsiche. Wenn der Deckel runter war, stellte ich mir vor, wie ihr ein verlockend süßer Duft in die Nase stieg und sie ein Gefühl von Stolz und Meisterschaft verspürte, sich noch ganz »auf die gute alte Art« zu verstehen. Indirekt hatte auch ich mich stolz gefühlt, aber jetzt fühlte ich mich betrogen.

»Daddy hat sich mal wieder viel zu viele Gedanken gemacht«, sagte sie.

»Daddy?«

»Ja doch«, sagte sie. »Du.«

»Niemand sagt Daddy zu mir.«

»Mama schon.«

Das ist ihre neuste Masche. Alle Männer sind bei ihr Daddy und alle Frauen Mama. Mit vierzig redet sie wie ein ziemlich aufgewecktes Kleinkind.

Meine Schwester wohnt in Somerville, in der Parterrewohnung eines kleinen zweistöckigen Hauses Ein Maschendrahtzaun trennt den Vorgarten vom Bürgersteig, und hinterm Haus steht eine Garage, in der ihr Fahrrad und die selbst gebaute Rikscha untergebracht sind, die sie hinten an ihr Rad hängen kann. Es ist ein monströses, kutschenartiges Teil mit einem Sperrholzboden und zwei Rädern von einem ausgeschlachteten Zehngangrad. Es gibt eine ganze Reihe Regeln, die Rikscha betreffend, von denen die meisten sich darum drehen, was man sich bei ihrem Anblick erlauben darf und was nicht. Lachen geht auf keinen Fall, genauso wenig wie eine Hupe nachmachen, mit dem Finger drauf zeigen oder mit den Händen Schlitzaugen ziehen. Letzteres kommt öfter vor, als man glaubt, und es ärgert Tiffany am meisten Sie ist eine entschiedene Fürsprecherin der Chinesen geworden, ganz besonders von Mrs. Yip, ihrer Vermieterin, die ihr beigebracht hat, Fett durch rhythmisches Klopfen auf Hüften und Bauch zu bekämpfen. Jeden Morgen steht meine Schwester im Wohnzimmer vor dem Fernseher und trommelt eine halbe Stunde auf sich herum Sie behauptet, es halte sie fit, obwohl es vermutlich eher am Fahrrad und an der schweren Rikscha liegt.

»Sie hat eine wunderbare Stimme«, sagt mein Vater. »Wenn sie nur etwas daraus machen würde.«

Fragt man ihn, was er mit etwas meint, sagt er, sie solle ein Album herausbringen.

»Aber sie singt gar nicht.«

»Na, sie könnte aber.« Er redet so, als sei die Tatsache, dass sie kein Album herausbringt, nur ihrer Faulheit zuzuschreiben, als ob die Leute einfach so in ein Studio spazierten, ein Dutzend Stücke aufnähmen und die Radiosender einem die Aufnahmen aus der Hand reißen würden. Ich habe Tiffany noch nicht einmal »Happy Birthday« singen hören, aber was ihre Stimme angeht, hat mein Vater Recht, sie hat eine wunderbare Stimme. Schon als Kind klang sie rauchig und voll, was selbst ihren banalsten Äußerungen einen verruchten, leicht erotischen Unterton gab.

»Jeder Mensch soll mit seinen Talenten wuchern«, sagt mein Vater. »Wenn sie kein Album machen will, kann sie vielleicht im Empfang arbeiten. Da muss sie nur das verdammte Telefon abnehmen.«

Aber Tiffany braucht keine Tipps für die Karriere, schon gar nicht von unserem Vater.

»Ich glaube, sie ist glücklich mit dem, was sie macht«, wende ich ein.

»Ach, Mumpitz.«

Mit dreizehn bekam Tiffany eine Zahnspange, und mit vierzehn versuchte sie sie mit einer Kneifzange herauszubrechen. Zuvor war sie von zu Hause ausgerissen und wollte alle Ähnlichkeit mit dem Klassenfoto loswerden, das meine Eltern der Polizei gegeben hatten. Beim Versuch, etwas über ihren Verbleib zu erfahren, redete ich mit einer ihrer Freundinnen, einem Mädchen, das einen wirklich hartgesottenen Eindruck machte und sich Scallywag nannte. Sie behauptete, nichts zu wissen, und als ich ihr vorwarf, sie lüge, öffnete sie eine Colaflasche mit den Zähnen und spuckte den Kronkorken in ihren Vorgarten. »Hör zu«, sagte ich, »ich bin nicht dein Feind.« Aber sie hatte einiges über mich gehört und wusste, dass mir nicht zu trauen war. Nachdem man sie aufgegriffen hatte, saß Tiffany eine Weile in Jugendarrest und landete dann in einer Erziehungsanstalt, von der meine Mutter in einer Talkshow im Nachmittagsprogramm gehört hatte. Zur Strafe musste man sich dort flach auf den Boden legen und den Mund öffnen, und ein Aufseher versenkte dann Golfbälle darin. »Böses Handikap« sagte man dazu. Letzten Endes machte man dort nichts anderes, als die Jugendlichen zu foltern, bis sie achtzehn waren und damit alt genug, ganz legal wegzulaufen.

Nach ihrer Entlassung entwickelte Tiffany eine Leidenschaft fürs Backen. Sie besuchte eine Kochschule in Boston und arbeitete mehrere Jahre in einem Restaurant, in dem man es originell fand, Kekse mit Estragon und schwarzem Pfeffer zu bestreuen. Es war eine Küche für Leute, die lieber lesen statt essen, aber der Job war gut bezahlt, und es gab Sozialleistungen. Von Mitternacht bis in die frühen Morgenstunden stand Tiffany in der Küche, siebte Mehl und hörte AM Talk Radio, was lustig oder gespenstisch sein kann, je nachdem, wie gut man sich von den Anrufern distanzieren kann. Tommy aus Revere, Carol aus Fall River – beide sind einsam und durchgeknallt. Man selbst ist das nicht. Aber gegen vier Uhr früh verwischt die Grenze und verschwindet völlig, wenn man allein und mit einer großen Papiermütze auf dem Kopf dasteht und frischen Schnittlauch auf eine Buttercremeglasur streut.

»Darf ich rauchen?«, fragt Tiffany unseren Taxifahrer und hat die Zigarette bereits angezündet, noch ehe der Mann etwas sagen kann. »Sie können auch eine rauchen, wenn Sie möchten«, sagt sie. »Das stört mich überhaupt nicht.« Der Mann, ein Russe, lächelt in den Rückspiegel und entblößt einen Mund voller Goldzähne.

»Whoa, Daddy. Jetzt wissen wir, wo du dein Geld anlegst«, sagt Tiffany, und ich fange an mir zu wünschen, einer von uns hätte einen Führerschein. Wie unsere Mutter kann Tiffany problemlos mit den Leuten reden. Wäre ich nicht mit im Wagen und könnte sie sich ein Taxi leisten, säße sie zweifellos vorne neben dem Fahrer und lobte ihn für sein sicheres Blinken, um sich im nächsten Moment über das Foto auf seiner Fahrerlizenz oder den darunter stehenden Namen lustig zu machen. Als Kind hatte sie den Ruf einer notorischen Lügnerin, was sie heute dadurch wettzumachen versucht, dass sie jederzeit die Wahrheit sagt, so unpassend sie auch sein mag. »Ich will dich nicht belügen«, sagt sie und vergisst, dass nichts zu sagen auch eine Möglichkeit wäre.

Auf der Fahrt von Cambridge nach Somerville zeigt Tiffany mir die verschiedenen Arbeitsstätten, an denen sie in den letzten Jahren gearbeitet hat. Zuletzt in einer traditionellen italienischen Backstube, in der außer ihr lauter ergraute Kriegsveteranen mit Namen wie Sal oder Little Joey waren. Den ganzen Tag über suchten sie nach passenden Gelegenheiten, ihr an den Hintern zu packen oder ihr mit der freien Hand vorne über die Schürze zu fahren, und sie ließ sie gewähren, weil: »(a) Es tat nicht weh, (b) ich war die einzige Frau, welchen anderen Arsch sollten sie da begrapschen? und (c) der Boss ließ mich rauchen.«

Der Lohn war niedriger als bei früheren Jobs, aber sie blieb dennoch fast ein ganzes Jahr, bis der Besitzer ankündigte, er werde Urlaub machen, weil seine weitläufige Verwandtschaft ein Familientreffen in Providence veranstalte. Die Bäckerei bliebe in den ersten beiden Oktoberwochen geschlossen, und die Angestellten müssten ohne Lohn auskommen. Tiffany besitzt weder Kreditkarten noch einen Telefonanschluss für Fernverbindungen. Ihr ganzes Geld fließt in die Miete und den Kabelanschluss, sodass sie die Ferien zu Hause vor dem Fernseher verbrachte, auf ihren leeren Bauch trommelte und zusehends schlechtere Laune bekam. Zwei Wochen später ging sie wieder zur Arbeit und fragte ihren Boss, ob er sich bei dem »Itaker-Auflauf« amüsiert habe. Normalerweise weiß sie ganz genau, wie weit sie bei jemandem gehen kann, aber diesmal hatte sie sich verschätzt. Als wir an der Bäckerei vorbeifahren, schnippt sie ihre Zigarette aus dem Fenster. »Itaker-Auflauf«, sagt sie »Wie kann jemand das nicht lustig finden?«

Nach dem Italiener kam die Rikscha und die Rückkehr zur Arbeit in den frühen Morgenstunden, wie damals, als sie in der Küche des Restaurants gestanden hatte. Doch wenn jetzt alle Welt schläft, macht sie sich daran, den Abfall anderer Leute zu durchwühlen. Sie zieht mit einer Taschenlampe und Gummihandschuhen los und fischt erstaunlich viele Zähne aus dem Müll. »Aber keine wie ihre«, sagt sie unserem Taxifahrer. »Die meisten sind künstlich.«

»Die meisten?«, frage ich.

Sie greift in ihren Rucksack und drückt mir zwei lose Backenzähne in die Hand. Der eine ist klein und hell wie ein Milchzahn, der andere ist ein richtiger Brocken und sieht aus, als hätte man ihn irgendwo aus der Erde gezogen. Ich klopfe damit gegen die Scheibe, überzeugt davon, dass es sich um einen Plastikzahn handelt. »Wer würde einen echten Zahn einfach wegschmeißen?«, frage ich.

»Ich nicht«, sagt der Fahrer, der sich zwischendurch immer mal wieder in unsere Unterhaltung einmischt, seit Tiffany ihm erlaubt hat zu rauchen.

»Sicher«, sagt sie. »Sie würden das nicht machen. Jeder andere, zumindest jeder Amerikaner, denkt sich, raus und weg damit. Was bei uns den Leuten aus dem Mund fällt, landet im Müll, Daddy«.

Neben Zähnen findet meine Schwester auch Geburtstagskarten und Ponys aus Keramik. Wütende Briefe an Kongressabgeordnete, die nie abgeschickt wurden. Unterhosen. Talismankettchen. Kleinere Fundstücke stopft sie in ihren Rucksack, alles andere landet in der Rikscha und anschließend in ihrer Wohnung. Ist irgendwo jemand gestorben, fährt sie in einer Nacht drei- oder viermal und schleppt alles ab, vom Lehnsessel bis zum Papierkorb.

»Letzte Woche hab ich einen Truthahn gefunden«, erklärt sie uns.

Ich warte auf den zweiten Teil des Satzes: »Ich habe einen Truthahn gefunden ... den jemand aus Pappmache gebastelt hatte. Ich habe einen Truthahn gefunden ... und ihn hinterm Haus vergraben.« Als klar wird, dass kein zweiter Teil kommt, werde ich stutzig. »Was soll das heißen, du hast einen Truthahn gefunden?«

»Tiefgefroren«, sagt sie. »Im Abfall.«

»Und was hast du damit gemacht?«

»Na ja, was machen die meisten Leute schon mit einem Truthahn?«, sagt sie. »Ich habe ihn gebraten und dann gegessen.«

Sie stellt mich auf die Probe, und ich falle durch, weil ich genau die langweiligen Dinge sage, die man von einem gesetzten Mann erwarten darf. Dass der Truthahn mit Sicherheit aus gutem Grund fortgeworfen wurde. Dass er womöglich vom Erzeuger zurückgerufen wurde, wie eine Lieferung verdorbener Fischstäbchen »Vielleicht hat auch jemand dran herumgemacht.«

»Wer würde freiwillig einen tiefgefrorenen Truthahn ficken?«, fragt sie.

Ich versuche mir eine solche Person vorzustellen, aber es klappt nicht. »Na gut, vielleicht war er aufgetaut und wurde nachher wieder eingefroren. Das ist gefährlich, oder?«

»Du solltest dich reden hören«, sagt sie. »Wenn er nicht von Balducci’s stammt und mit Polenta und wilden Minieicheln gemästet wurde, kann er nur gefährlich sein.«

So hatte ich das überhaupt nicht gemeint, doch als ich mich zu rechtfertigen versuche, legt sie dem Fahrer eine Hand auf die Schulter. »Wenn Ihnen jemand einen völlig normalen Truthahn anbieten würde, würden Sie ihn nehmen, nicht wahr?«

Der Mann bejaht, und sie streichelt ihm den Kopf. »Mama mag dich«, sagt sie.

Sie hat ihn auf ihre Seite gezogen, allerdings auf eine unfaire Art, und ich bin selbst erstaunt, wie wütend mich das macht. »Es ist ein Unterschied, ob man einen ›völlig normalen Truthahn‹ angeboten bekommt oder ob man einen Truthahn in der Mülltonne findet«, sage ich.

»Abfalltonne«, verbessert sie mich. »Mein Gott, du tust so, als ob ich mich hinterm Großmarkt durch die Müllcontainer wühle. Es war nur ein einziger Truthahn. Reg dich ab.«

Sie hat natürlich auch schon wertvolle Dinge gefunden und Kontakte zu Leuten geknüpft, die sich dafür interessieren. Es sind die Typen, die sich auf Flohmärkten herumtreiben, Männer mit Bärten und langen Fingernägeln, die sich darüber aufregen, wenn man die Farbe eines bestimmten Fiestaporzellans orange anstatt rot nennt. Sie haben etwas an sich, das mich misstrauisch macht, aber wenn man mich fragt, kann ich nicht mehr sagen, als dass ich mich in ihrer Nähe unwohl fühle. Wenn ich Freunde von Amy oder Lisa treffe, fühle ich eine Art Vertrautheit, doch die Leute, mit denen Tiffany herumhängt, sind ein völlig anderer Schlag. Ich denke nur an die Frau, die sieben Schussverletzungen abbekam, als sie sich der Polizei entziehen wollte. Sie ist wirklich sehr nett, aber sich der Polizei entziehen? Das ist irgendeine Outlawkacke, würde mein Bruder sagen.

Je näher wir ihrer Wohnung kommen, desto mehr unterhält meine Schwester sich mit dem Taxifahrer, und als wir vor ihrem Haus halten, bin ich praktisch völlig abgemeldet. Wie es scheint, hatte seine Frau große Probleme, sich an das Leben in den Vereinigten Staaten zu gewöhnen, und ist deshalb vor kurzem in ihr Heimatdorf bei St. Petersburg zurückgekehrt.

»Aber Sie sind nicht geschieden«, sagt Tiffany. »Sie lieben sich noch immer, richtig?«

Als ich dem Mann sein Geld gebe, spüre ich, dass sie viel lieber ihn als mich zu Besuch hätte. »Möchten Sie kurz reinkommen und das Bad benutzen?«, fragt sie ihn. »Haben Sie irgendein Ortsgespräch zu erledigen?« Er lehnt die Einladung höflich ab, und ihre Schultern sinken, als er davonfährt. Er war ein netter Typ, aber mehr noch als seine Bekanntschaft bräuchte sie ihn als Puffer, der sich zwischen sie und mein aus ihrer Sicht unvermeidliches Urteil stellt. Als wir die Stufen zu ihrer Veranda hochgehen, zögert sie einen Moment, bevor sie die Schlüssel aus ihrer Tasche zieht. »Ich habe keine Zeit gehabt aufzuräumen«, sagt sie, doch sogleich ärgert sie ihre Lüge, und sie korrigiert: »Was ich sagen wollte, ist, dass es mir scheißegal ist, was du von meiner Wohnung hältst. Ich wollte eigentlich gar nicht, dass du herkommst.«

Ich sollte mich gut fühlen, dass Tiffany sich das endlich von der Seele geredet hat, aber erst muss der Schmerz sich legen. Würde ich nachfragen, könnte meine Schwester mir genau erklären, wie sehr sie meinen Besuch gefürchtet hat, also lass ich es lieber und frage nach der Katze, die ihren dicken rostroten Kopf am Verandageländer scheuert. »Ach die«, sagt sie. »Das ist Daddy.« Dann streift sie ihre Schuhe ab und schließt die Tür auf.

Die Wohnung, die ich mir bei unseren Telefongesprächen vorstelle, ist nicht die Wohnung, die Tiffany tatsächlich bewohnt. Es ist der gleiche physikalische Raum, doch ziehe ich es vor, sie mir so vorzustellen, wie sie vor einigen Jahren ausgesehen hat, als sie noch einen festen Job hatte. Sie war nie besonders schick oder sorgfältig eingerichtet, aber sie war sauber und bequem und schien ein Ort zu sein, auf den man sich nach der Arbeit freute. Es gab Vorhänge vor den Fenstern und ein zweites Schlafzimmer für Gäste. Dann kam die Rikscha, und nachdem sich ihre Wohnung in ein blühendes Ramschlager verwandelt hatte, gab sie auch den letzten Rest von Sentimentalität auf. Dinge werden angeschleppt, und wenn es Zeit für die Miete wird, wandern sie wieder raus, der gefundene Küchentisch genauso wie die Servierschüssel, die ein Erbstück unserer Großtante ist, oder die Weihnachtsgeschenke vom Vorjahr. Eine Zeit lang wurden gewisse Objekte ersetzt, bis sie eine wirklich harte Phase durchmachte und lernte, ohne Dinge wie Stühle und Lampenschirme auszukommen. Beim Betreten ihrer Wohnung versuche ich mich vom Fehlen dieser Dinge nicht irritieren zu lassen, was mir einigermaßen gelingt, bis wir in die Küche kommen.

Bei meinem letzten Besuch hatte Tiffany gerade damit begonnen, den Linoleumboden herauszureißen. Ich war davon ausgegangen, dass es sich um ein Projekt mit mehreren Arbeitsschritten handelte und auf Phase eins Phase zwei folgen würde. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, es könnte bei diesem einen Schritt bleiben und das Ergebnis wäre ein Fußboden aus Teerpappe. Stellt man sich dazu noch nackte Füße vor, hat man den schlimmsten Albtraum jedes Fußpflegers. An den Knöcheln meiner Schwester befinden sich Fortsätze, die über Zehen und einen Spann verfügen, aber ich würde nicht Füße dazu sagen. Von der Farbe her erinnern sie an die ledrigen Pfoten von Menschenaffen, doch was die Festigkeit angeht, gleichen sie eher Hufen. Um gerade stehen zu können, streift sie regelmäßig Abfälle von der Fußsohle – einen Kronkorken, Glassplitter, einen Hähnchenknochen –, aber im nächsten Moment ist sie schon wieder in etwas getreten, und die Prozedur geht von vorne los. Das passiert, wenn man Besen und Staubsauger gleichzeitig verkauft.

Ich sehe den dreckigen Lappen vor der unteren Hälfte des Küchenfensters und die verkrusteten Bratpfannen mit den abgebrochenen Stielen, die auf der fettigen Ofenplatte verteilt sind. Meine Schwester lebt in einer Fotografie von Dorothea Lange, und der Schwule in mir will gleich auf die Knie sinken und schrubben, bis die Finger bluten. Bisher habe ich das bei jedem meiner Besuche gemacht und jedes Mal gehofft, es könnte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Glänzende Küchengeräte, ein nach Scheuermilch duftendes Bad. »Riecht das nicht herrlich!«, sage ich anschließend immer. Als ich das letzte Mal hier war und den Boden im Wohnzimmer abgekratzt, gewischt und gebohnert hatte, musste ich mit ansehen, wie sie ein Weinglas umstieß und gute sechs Stunden Arbeit zunichtemachte. Es war kein Missgeschick, sondern ein wohlüberlegtes Statement: Deine Sorge um meinen Haushalt kann mir gestohlen bleiben. Später rief sie meinen Bruder an und nannte mich Fairy Poppins, was an sich nicht schlimm ist, wenn es nicht so passend wäre. Diesmal habe ich mir vorgenommen, eisern zu bleiben, aber wenn ich nicht putze, komme ich mir überflüssig vor und weiß so recht nichts mit mir anzufangen.

»Wir könnten reden«, schlägt Tiffany vor. »Damit haben wir es noch nie versucht.«

Ach ja?, denke ich. Wenn ich mit Tiffany weniger als mit meinen anderen Schwestern rede, dann deshalb, weil sie nie nach Hause kommt. Es dauerte Monate, sie zu überreden, zur Hochzeit meines Bruders zu kommen, und selbst als wir sie so weit hatten, rechnete niemand wirklich mit ihrem Erscheinen. Sie und Paul kommen prima miteinander aus, aber komplett versammelt, macht sie die Familie nervös. Wir haben nur untätig dagesessen, als ihr Golfbälle in den Mund geschlagen wurden, und je weniger Zeit sie mit uns verbringt, desto glücklicher ist sie. »Kapiert ihr nicht?«, sagt sie. »Ich kann euch Typen nicht ausstehenEuch Typen. Als wären wir ein Unternehmen, das Spenden sammelt.

Tiffany tritt ihre brennende Zigarette auf der Teerpappe aus und hopst auf die Küchenplatte. Unter ihrem rechten Huf sehe ich die noch schwelende Kippe. »Ich habe ne Menge an den Fliesen gemacht«, erklärt sie mir und zeigt mit dem Finger in Richtung Kühlschrank, wo eine Mosaikplatte gegen die Wand gelehnt ist. Schon vor Jahren hat sie damit angefangen, einzelne Porzellansplitter zu verarbeiten, die sie im Abfall findet. Ihr neuestes Projekt hat die Größe einer Badematte und konzentriert sich um die Reste einer Hummelfigur, deren Engelsgesicht von einem wirbelnden Kranz aus Kaffeetassensplittern umgeben ist. Wie schon die kunstvollen Lebkuchenhäuser aus ihrer Zeit in der Backstube spricht aus Tiffanys Mosaiken die manische Energie eines Menschen, der eingeht, wenn er sich nicht ausdrücken kann. Es ist eine seltene Gabe, die vollkommene Unbefangenheit voraussetzt, und deshalb weiß sie auch nichts davon.

»Eine Frau wollte es kaufen«, erklärt sie mir. »Wir hatten sogar einen Preis vereinbart, aber irgendwie kam ich mir unanständig vor, dafür Geld zu nehmen.«

Ich kann verstehen, wenn man glaubt, man sei nicht gut genug, aber keiner hat Geld dringender nötig als Tiffany. »Du könntest es verkaufen und dir einen Staubsauger zulegen«, sage ich. »Einen neuen Linoleumboden in der Küche legen, wäre das nichts?«

»Was hast du nur mit meinem Küchenboden?«, fragt sie. »Wen kümmert schon dieses gottverdammte Linoleum?«

In der Ecke des Zimmers nähert Daddy sich meiner Windjacke und knetet sie mit seinen Pfoten, um sich anschließend daraufzulegen und sich einzurollen. »Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt mit dir streite«, sagt Tiffany. Sie wollte mir ihre künstlerischen Arbeiten zeigen – etwas, das sie wirklich interessiert und worin sie gut ist –, und ich komme ihr, genau wie mein Vater, mit klugen Ratschlägen, wie sie etwas ganz anderes aus sich machen kann. Als ich in ihr Gesicht sehe und darin eine Mischung aus Erschöpfung und Trotz entdecke, muss ich an eine Unterhaltung denken, die ich jedes Jahr mit meinem Freund Ken Shorr führe:

ICH: Hast du schon einen Baum?

KEN: Ich bin Jude, ich schmücke keinen Weihnachtsbaum.

ICH: Dann hast du einen Kranz?

KEN: Ich sagte doch, ich bin Jude.

ICH: Oh, ich verstehe. Du suchst noch nach einem billigen Kranz.

KEN: Ich suche nach überhaupt keinem Kranz. Und jetzt lass mich bitte in Frieden.

ICH: Wahrscheinlich bist du genervt, weil du die Weihnachtseinkäufe noch nicht erledigt hast.

KEN: Ich mache keine Weihnachtseinkäufe.

ICH: Was soll das heißen? Du bastelst alles selbst?

KEN: Ich mache keine Weihnachtsgeschenke, kapiert? Verdammt noch mal, ich sagte doch, ich bin Jude.

ICH: Na gut, aber musst du nicht wenigstens was für deine Eltern kaufen?

KEN: Die sind ebenfalls Juden, du Hornochse. Deshalb bin ich auch einer. Man wird so geboren, verstehst du?

ICH: Klar doch.

KEN: Dann sag’s laut: »Ich verstehe.«

ICH: Ich verstehe. Aber sag, wo hängst du den Gabenstrumpf auf?

Ich scheine irgendwie nicht zu begreifen, dass alles, was mir wichtig ist, nicht automatisch wichtig für alle anderen ist, weshalb ich mir wie ein Missionar vorkomme, der immer nur bekehren will, anstatt zuzuhören. Ja doch, euer Tiki-Gott ist ganz hübsch, aber wir wollen hier über Jesus sprechen. Kein Wunder, dass Tiffany meine Besuche fürchtet. Selbst wenn ich nichts sage, scheine ich sie mit meinen spießigen Vorwürfen zu bedrängen, indem ich die Frau, die sie ist, mit der Frau vergleiche, die sie niemals sein wird, eine keimfreie Version, die mit echten Glasdeckeln kämpft und die anderer Leute Zähne und gefrorene Truthähne lässt, wo sie sie findet. Nicht, dass ich sie nicht mag – ganz im Gegenteil –, ich sorge mich nur, ohne einen festen Job und einen anständigen Linoleumboden könnte sie durch die Maschen fallen und irgendwohin verschwinden, wo wir sie nicht mehr finden.

Im Wohnzimmer klingelt das Telefon, und es wundert mich nicht, dass Tiffany drangeht. Sie sagt dem Anrufer nicht, dass sie Besuch hat, sondern scheint sich, zu meiner großen Erleichterung, auf ein längeres Gespräch einzurichten. Ich beobachte meine Schwester, wie sie durchs Wohnzimmer geht und mit ihren mächtigen Hufen Staub aufwirbelt, und als ich sicher bin, dass sie nicht länger herüberschaut, scheuche ich Daddy von meiner Windjacke. Dann lasse ich heißes Putzwasser in die Spüle, kremple die Ärmel hoch und mache mich daran, ihr Leben zu retten.